This is woodland

Katalogtext von Ulrike Rathjen, Kunsthistorikerin

Wald ist ein zentrales Motiv Sigrid Stabels fotografischer Arbeit der Jahre 2011 bis 2013. Vielfältig tritt er in Erscheinung, für sich und im Ensemble mit weiteren Motiven. Seine Präsenz verbindet die Serien und die Ausstellungen Waldhaus I, Waldhaus II und Waldgeschichten sowie Stoffwechsel, die in diesem Katalog gezeigt werden.

Der Wald ist Hort von Verborgenem und von Zeit, unzählige Jahresringe finden sich versammelt. Er ist Erinnerungsraum und auch jener Ort an dem sich Grimmsche Märchenfiguren verlieren. Er ist vielmals allegorisierte und in Bilder gefasste Landschaft. Das in der Kunst manifestierte Bild vom Wald ist vor allem durch die Malerei der deutschen Romantik geprägt und damit eng mit der europäischen Kultur und Geschichte verbunden. Der Wald ist darüber hinaus ein psychologischer Raum, ein Ort der Selbstvergessenheit. Die Künstlerin unternimmt nach wie vor Gänge in den Wald ihrer Kindheit, in lang vertrautes Gebiet und begibt sich – nicht nur mit diesen Arbeiten – auf die Spuren der eigenen Biografie.

Was für ein Gefühl: die Trampelpfade abzulaufen, die vor Jahrzehnten schon so da waren, die Gerüche, die sich nicht geändert haben. Erinnerungen tauchen auf an das Glück, über die Freiheit und Geborgenheit, frei von Zeitgefühl, den leichten, schönen Schauer. Wie leicht könnte man dort bleiben. Immer. Und schließlich die Erleichterung über die Häuser die durch die Baumstämme hindurch allmählich wieder sichtbar werden.

Die Thematik „Innen versus Außen“ ist ein zentrales Thema unseres Daseins in der Welt: Wie nehmen wir teil; nehmen wir Dinge oder Situationen fokussiert, geschärft wahr oder unklar, vielleicht intuitiv. Sind wir nah oder fern von etwas. Welche Räume besitzen wir, was machen Gebäude mit uns?

Gehäuse oder Haus, Heim und Interieur spielen in Sigrid Stabels Arbeiten thematisch und motivisch seit je eine wichtige Rolle. In ihm geschehen kuriose Dinge. Zivilisation und Natur gehen bei der Künstlerin vielschichtige Bindungen ein. Die Sicht auf eine Hütte im Wald, eine Lampe, die zwischen Bäumen hängt, Sylvesterfeuerwerk hinter dem Geflecht von Ästen, Mandalas als Räder der Zeit arrangiert zu einem abstrakten Memento Mori-Motiv. Es können mythische Räume sein, wie etwa die Landschaft Arkadien, die Bildtitel für die Darstellung zweier Kinder ist, die leichtfüßig auf eine Waldlichtung zu gehen.

Stoffwechsel

Vibration und Geschwindigkeit sind diesem Waldtrip (2012) zu Eigen; rasant geht es zu an einem sonnigen Winternachmittag an einem Jägerzaun. Essentielle Themen von Sigrid Stabels Arbeit sind in dieser Fotografie vereint. Die Natur, ihre Farben, das Innen und Außen bzw. Dahinter und Davor – und gerade das Erforschen der Grenzbereiche dazwischen – , das Auffinden und Hervorheben von stofflichen Strukturen und Mustern – und deren Dekonstruktion.

Kalkuliertes „Verwackeln“ spielt in Sigrid Stabels fotografischer Arbeit seit 2011 eine bildgebende Rolle. Es erzeugt eine Dynamik, die der fürs bloße Auge sichtbaren Ausgangssituation nicht innewohnt, und damit besondere Atmosphären. Der Moment der Bildwürde scheint nicht fest gefügt. Die Bewegung offenbart mehr als einen Moment. Eher ein intensivierender Ausschnitt einer weiteren Dimension, in der Dinge und Farben anders erscheinen. Sigrid Stabel sucht immer auch den richtigen Kameradreh. Ein Baumstamm wird so zum Zentrum eines Strudels, punktuelle Lichteinfälle verwandeln sich in Farbmuster oder Ornament. Farben erhalten eine höhere Intensität und strahlen an einigen Stellen fast phosphoreszierend. Die Baumstämme in Waldwunder (2011) erhalten durch die Auf-und-Ab-Bewegung der Kamera die Anmutung blaumetallischer Röhren. Die fotografischen Spuren von Zwischenräumen und Licht materialisieren sich. Nichtstoffliches beginnt sein ästhetisches Eigenleben als Form, Stofflichkeiten verändern sich.

So erfahren auch die auf der Fotografie „verwackelt“ zu sehenden Zwischenräume des Jägerzaunes im Waldtrip eine Verwandlung. Durch die Bewegung bilden diese Negativräume ein konkretes Raster weißer und grüner Rauten aus, die sich räumlich von der Bildebene zu lösen scheinen. Die reale Bildtiefe weicht zugunsten einer neuen, abstrakten Räumlichkeit.

Die malerische Unschärfe in Sigrid Stabels Arbeiten rührt von unterschiedlichen technischen Herangehensweisen: durch den Zoom in die Fotografie und die Wahl eines stark vergrößerten Ausschnittes, durch die Bewegung aus dem Handgelenk heraus, und, wie in den jüngsten Blumenbildern, durch einen Perspektivwechsel: Mit einer gewissen Distanzlosigkeit begibt sich die Künstlerin mit der Kamera auf die Höhe von Insekten, der Fokus ist dabei auf die Ferne gestellt.

Unser Blick kommt damit den zarten Blüten und saftigen Stengeln ganz nah. Ihre festen Formen scheinen sich osmotisch in ihrer Umgebung, in der Luft, im Äther und im Licht zu feinstofflichen Farbnebeln aufzulösen. Sogar die gemeine Geranie erhält so vor den hängenden Zweigen einer Lerche exotische Schönheit. Jede Farbnuance der Blüten wird erfasst. Der Blick geht durch diese hindurch und weiter auf die nach hinten abschließenden, klar umrissenen Bäume. Sie wirken bedrohlich und gleichzeitig beschützend aus einem ganz anderen Stoff bestehend. Auch durch diese Bildebene fällt wiederum verheißungsvoll Licht von einem noch weiter zurückliegenden Bereich.

Kaum Greifbares wird von Sigrid Stabel zu komplexen Settings bearbeitet, die ein lockerer Plot verbindet. Die Erzählfäden laufen in den als Gruppen gezeigten bzw. an der Wand gehängten Fotografien zu offenen Geschichten zusammen welche variable, offene Lesarten ermöglichen. In der Ausstellung Waldgeschichten (2011 im Kunstverein Kohlenhof) sind in der bei uns gebräuchlichen Leserichtung von links nach rechts in einer Fotosequenz der Verlauf von Nacht zu Tag, in einer anderen die Strecke von einem Haus aus – durch den Wald hindurch – aus dem Wald hinaus, angegeben. Das was sich zwischen den einzelnen Bildern an Vor- und Rücksprüngen ergibt, ist abhängig vom Betrachter, der trotz des reichhaltigen Bilderschatzes der Künstlerin Raum für eigene Assoziation erhält.

Eindrücke und Strukturen überlagern und verbinden sich in Sigrid Stabels Arbeiten und erzeugen räumliche, zeitliche und gedankliche Bewegung – in das Wesen der Natur, in die Geschichte der Abstraktion und in die eigenen Welten.