whitewalk

Das Schlafzimmer,
der Fernseher
und der Palast

Katalogtext von Annemarie Hürlimann, Kunsthistorikerin und Ausstellungskuratorin

»Jeder bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter, da mag einer die Kleider oder auch Kostüme wechseln wie er will.«
Heimito von Doderer

In der heutigen Diskussion um Identität haben biografische und autobiografische Aufzeichnungen auch in der Kunst Hochkonjunktur. Sich auf eine Reise in die Vergangenheit zu begeben, ist nicht mehr nur Privileg von Memoiren schreibenden älteren Personen und von Biografen verstorbener Persönlichkeiten, die oft die Idylle der Jugend als Gegenwelt nostalgisch vergolden. Auch jüngere bildende Künstler, Schriftsteller, Film- und Theaterregisseure bedienen sich ihrer Erinnerung. Sie suchen nicht nur heile Welt und Kontinuität, sondern auch Brüche und Irritationen, Verletzungen und Ängste, um so eine individuelle und künstlerische, aber auch kulturelle Identität einzukreisen. Erinnerung ist immer Fragment, sie funktioniert nicht linear, sondern selektiv und assoziativ, vergrößert und verkleinert, holt Fernes in die Nähe. Sie verknüpft wie der Traum scheinbar unvereinbare Dinge und Bilder, unterscheidet nicht zwischen Dichtung und Wahrheit, Fiktion und Realität. Erinnerung ist nicht Vergangenheit, sie konstruiert und verdichtet eine Vergangenheit, die sich für Interpretationen der Gegenwart und Zukunft anbietet.

Die Erinnerung an ihre Kindheit und Jugend ist das Arbeitsmaterial für Sigrid Stabels künstlerisches Konzept. 1964 geboren gehört sie zu der Generation, die mit TV die Welt und ihre Dinge entdeckte. Bilder, Dinge und Töne, Gesten und Handlungen aus dieser medialen Welt scheinen sich am stärksten in ihrer Erinnerung verankert zu haben, jederzeit abrufbar und resistent gegenüber dem Vergessen. Sie legen die Spur für ihre Kunst, die weder nostalgische noch archäologische Ziele verfolgt. Stabel schafft mit den multimedialen Installationen Räume, die Stimmungen ihrer erinnerten Wirklichkeit einzufangen versuchen – melancholisch, magisch, verspielt, witzig, märchenhaft – Räume, die Privates und Öffentliches, Individuelles und Kollektives verschränken. Sie geben dem Betrachter die Möglichkeit, in die Welt der Künstlerin einzutauchen und dabei eigene Assoziationen und Gedächtnisspuren freizusetzen.

Drei Stimmungsräume

In der Installation Für meine Freundin Violetta II stützt sich Sigrid Stabel auf eine Kindersendung, die zwischen 1971 und 1976 als Serie im Fernsehen lief. »Violetta ist eine Marionette wie alle anderen Figuren auch. Sie stellt eine Maus dar und entspricht einem selbständigen Mädchen, einer attraktiven Mausfrau mit Klimperwimpern und so etwas wie einem Schmollschnäuzchen … In meiner Erinnerung war Violetta in so einer Art Schneiderwerkstatt, in der schöne Stoffe und allerlei Utensilien waren … sie hatte ihr ›eigenes Reich‹, in dem irgendwie eine mondän weibliche Atmosphäre war und von dem aus sich viele schöne Geschichten entspannen.« Schwärmerisch und ungenau kreist Stabel ihre Erinnerung an Violetta ein. Diese Ungenauigkeit ist gleichsam das emotionale und schöpferische Potential, da sie der Phantasie viel Raum lässt. Die Künstlerin wird herausgefordert, eine verschwommene Vorstellung, ein inneres Bild zu veräußern und zu fixieren – der Interpretation freizugeben. Die auf einer runden Plattform liegenden Gegenstände – eine Bettdecke mit gesticktem Kissen, das von rosa Steinen besetzte weiße Katzenhalsband mit Leine, der Spiegel, die Wärmflasche, das vergrößerte blumenförmige Zahnmodell, Knöpfe – sind in eigenartig schmuddeligen Farbentönen von lindengrün über rosa, schwarz und braun gehalten. Auf melancholische Weise evoziert das Ensemble den Ort einer älteren vereinsamten Frau von Welt, einer Schauspielerin oder Sängerin vielleicht, die sich in ihrer von Blumenmustern durchzogenen Dingwelt ihre Blütezeit erhalten will. Das Labyrinth aus rosa Schaumstoff, der »Rose von Chartres« nachgebildet, gefüllt mit farbigen Knöpfen, die an Murmeln erinnern, liegt als Fremdkörper etwas abseits. Ist es vielleicht ein Hinweis auf die Kindheit, waren doch Labyrinthe die Inspiration für das Hüpfspiel Himmel-und-Hölle? Oder ist es ein Symbol für den Lebensweg, auf das Violetta und mit ihr Künstlerin und Betrachter immer wieder verstohlen schauen – Stabels Blick voraus im Zorn?

Im Video ELEFANT lässt Stabel ihre Erinnerung an Tierfilme wie etwa »Daktari« lebendig werden. Sie sitzt in einem schrillen den siebziger Jahre nachempfundenen Ambiente vor einem Fernseher, der zu ihren Plastikspielzeugen gehörte. Mit ihr zusammen schauen wir dem grauen Tier auf seinem langsamen und schwerfälligen Spaziergang zu, der plötzlich irritiert wird, weil sein Rüssel ein Eigenleben zu leben beginnt. Er windet sich, abgesondert vom plumpen Körper, im grünen Sessel, einer Schlange gleich, in die Höhe. Die Künstlerin im roten Sessel gegenüber wendet ihren Blick vom Fernseher ab ihm zu, streichelt und füttert ihn; zögerlich und scheu lässt er sich auf das Spiel ein. Über diesen surrealen Einfall schmunzelnd nehmen wir an einem weiblichen Frühlingserwachen teil, blumig und farbig. Die Verschränkung der kindlichen Erinnerung an die Tierwelt mit dem selbstvergessenen Rüssel-Spiel voller sexueller Anspielungen macht Übergangsrituale mit liebevollem Witz sichtbar.

Eine gefundene Postkarte bildet den Ausgangspunkt der Videoprojektion whitewalk. Es ist das Bild eines weiten Raumes, der historisch und topografisch nicht genau zu orten ist, außer dass die ornamentale Architektur auf eine orientalische Gegend hinweist – Tausendundeine Nacht, die Erzählungen der Scheherezade fallen einem ein, eine Welt der Verzauberung, die zu unserem kollektiven Unbewussten gehört. Dieser Raum wird zum Schauplatz des Geschehens. Einer Nachtwandlerin gleich, umgeben von einer Art Lichtaureole – ein technischer Defekt mit künstlerischem Effekt – schwebt Stabel durch den Raum, verweilt und bewegt sich langsam tastend. Auf die leeren Wandpaneele sind Bilder projiziert – eine Mischung von biografischem und gefundenem fremden Material. Sie erzählen keine lineare Geschichte, sondern reihen sich unvermittelt aneinander wie in einem Traum oder Drogenrausch: Ein Fliegenpilz am Anfang der Bilderfolge erinnert daher weniger an das Kinderlied »Ein Männlein steht im Walde« als an seine halluzinogene Wirkung als Hilfsmittel für die Reise in eine persönliche Bilderwelt – Puppen, Katzen, Blumen, Blätter im Wind, Landschaften, Badeferien im Süden, Meer, Sonne und Wolken – diese entpuppen sich als industrieller Rauch. Und immer wieder Sigrid im weißen langen Kleid, am Boden sitzend oder auf einer Bank als Zuschauerin ihres eigenen Filmes, in einem Spiegel sich ihrer selbst vergewissernd, um dann den Raum durch eine Türe in einen Garten zu verlassen. Ob da die Reise weitergeht, ob sie aus dem Rausch erwacht oder ob sie ins Paradies eintritt – was sie da erwartet, ist ungewiss und lässt den Betrachter fragend und irritiert zurück.

Sigrid Stabels Stimmungsräume in der Ausstellung whitewalk – alle aus dem Jahre 2001 – verdichten Erinnerungen aus der Kindheit, entziehen sich jedoch nicht der Welt der Erwachsenen. Das kindliche Staunen über die Dinge und Bilder vermischt die Künstlerin mit Erfahrung und Wissen. Diese oszillierende Strategie lässt sie auf unsicherem Boden wandern – daher vielleicht auch der Titel whitewalk. Sie eröffnet aber auch Freiheiten und Energien, die unsere alltägliche Wirklichkeit nicht zulassen. »Erinnerung führt nicht zum Leben, sondern zur Kunst … Die Imagination des Kindes ist von allen möglichen Mythen, Texten, Bildern, Spielen und Spielzeugen beherrscht, die den Erwachsenen künstlich und unglaubwürdig zu sein scheinen. Das Kind erlebt dagegen die inszenierte, symbolische Welt unserer Zivilisation als einzige Realität und wird damit zum Fluchtpunkt dieser Zivilisation, in der Realität und Fiktion verschmelzen.«* Diese Welt versucht Sigrid Stabel als Künstlerin zu bewahren und weiterzugeben.

* Boris Groys: Eine Allegorie der Erinnerung. In: Martin Honert, Das fliegende Klassenzimmer, Venedig 1995